Wie man berühmte Menschen trifft

Den ersten »berühmten Menschen«, den ich in grauer Vorzeit als angehender Journalist interviewen sollte, war ein Filmstar. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte seinen Namen nie zuvor gehört, obwohl er doch so unerhört berühmt sein sollte, dass ich eigens nach Berlin zu einem Filmset geschickt wurde, um ihm ein paar Antworten abzuluchsen. Das Internet war in jener undenkbar lang zurück liegenden Zeit noch nicht erfunden, sonst hätte ich den Namen flink gegoogelt und wäre schlauer gewesen. Ich hätte mir auch ein Foto meines Interviewpartners anschauen können, und so wäre mir die erste Peinlichkeit erspart geblieben. Denn ausgerechnet den ersten Typen, der auf dem Set gelangweilt herumstand, fragte ich nach jener Berühmtheit, und ich möchte nicht wissen, was er von mir gedacht hat, als er sich als jener ach so gefragte Promi zu erkennen gab.

Immerhin hatte ich damit meinen ersten Promi im Interview, und ich kam auch leidlich zurecht, weil der Superstar hilfsbereit war und mein Unwissenheit mit mitleidigem Augenaufschlag hinnahm. Gay Talese, der Monate lang Frank Sinatra verfolgte, aber nicht vorgelassen wurde, hatte es da weitaus schwerer. Dafür hat er uns einer der besten Profilreportagen aller Zeiten hinterlassen. Sein Meisterwerk »Frank Sinatra ist erkältet« porträtiert den interviewunwilligen Superstar, ohne mit ihm auch nur ein Wort gewechselt zu haben, aus der Sicht des ihn begleitenden Tross.

Der Schweizer Kolumnist Mark van Huisseling kultivierte seinerseits die persönliche Art des Umgehens mit Berühmtheiten, über die er schreiben sollte. Er durchbrach das klassische Interview, indem er seine Gesprächspartner fragte, worüber sie selbst gern reden wollten. Dabei verstand er die oft bizarren Rahmenbedingungen, unter denen die Interviews stattfanden, als Lösung für seine Arbeit. Statt sich auf die konventionellen Frage-Antwort-Spielchen einzulassen, die zudem meist noch von Zerberussen der jeweiligen PR-Abteilungen überwacht und zensiert werden, erzählt er, was sich am Rande ereignet. Er stellt niemanden bloß, das überlässt er den Befragten selbst. Die floskelhafte Leere, die Pseudo-Promis, Stars und Sternchen umgibt, enthüllt sich damit von ganz allein.

Im Ergebnis schuf er Porträtminiaturen, die den Interviewten bisweilen in einem nicht unbedingt vorteilhaften Licht erscheinen lassen. Auf die Frage, welches Buch sie zuletzt gelesen habe, antwortet Verona Pooth, es seien einige von Homo Faber gewesen … Die dünne Oberfläche, auf der sich derartige Interviews bewegen, lassen damit durchaus tiefe Einblicke zu. Sein Spaziergang durch den Zoo der Alphatiere führt vom Avantgardekünstler Blixa Bargeld (»Wo sind wir heut losgefahren? Ach, Paris!« )über den professionell dauergutgelaunten Roberto Blanco (»Ich bin kein Spaßmacher, ich bin kein Clown. Ich bin Entertainer, ich will unterhalten«) und Pierre »Winnetou« Brice (»Die Helden von heute sind schwule Apachen, rosa gekleidet«) zu Dolly »Ballonbusen« Buster (»Wie lauten die Titel der letzten drei Filme, die Sie produzierten?« – »Ich kann mich nicht erinnern«).

Viereinhalb Stunden muss der Reporter auf Mariah Carey warten, die sich einen Fingernagel abgebrochen hat und ihm dann ihre nackten, langen Beine entgegen streckt (»Ich möchte weniger planen – Planen ist für die Armen«). Rocksänger Joe Cocker überrascht ihn mit dem Geständnis, von Hitler fasziniert zu sein (»Dieses Nazi-Ding war irgendwie umwerfend, von der Ideologie mal abgesehen«). Sarah Connor, die Pop-Prinzessin aus Delmenhorst, wird von einem albanischen Elitesoldaten gemanagt, und will nur über Oberbekleidung statt über Unterwäsche, für die sie wirbt, sprechen. Rolf Eden, Berlins ältester Playboy, bestreitet, Viagra zu nehmen (»Feministinnen – Wenn ich mit denen fertig bin, sind sie bloß noch feminin«).

Mark van Huisseling vertextet seine Interviews und reichert sie mit markigen Zitaten aus der Boulevardpresse an, die sein Gegenüber charakterisieren und spiegeln. Dabei zeichnet er sich durch einen extensiven Gebrauch von Zitaten in Klammern aus, es sind wohl dutzende pro Artikel. Seine Texte lesen sich unterhaltsam und beschwingt, er weicht positiv vom Klischee des Society-Reporters ab. Aber die Texte erschienen ursprünglich ja auch in der liberalen Schweizer »Weltwoche« und nicht in der Klatschpresse. Van Huisselings Interviews sind um ein Vielfaches besser als das Zeug, das ich in meinen Anfangsjahren zusammen dichtete. Gay Talese kann er hingegen nicht das Wasser reichen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kolumnen
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Empörung

Marcus Messner, College Schüler aus Newark bei New York. Jude. Metzgersohn. Marcus Messner flieht 1951 vor der von ihm als Alptraum empfundenen Fürsorge seines Vaters durch einen Schulwechsel. Aus dem liberalen, urbanen und prosperierenden Newark an der US-Ostküste zieht er nach Ohio, in das konservative College von Winesburg. Hier will er sich auf das Lernen konzentrieren, will sich nicht ablenken lassen. Marcus Messner will in Ruhe gelassen werden. Juden sind in Winesburg eine Randgruppe. Kirchenbesuch verbindlich – in einer christlichen Kirche. Gemeinschaftssinn ist Pflicht. Keine Chance für Marcus Messner in Ruhe gelassen zu werden.
Was folgt, ist die Geschichte der Auflehnung gegen eine subtile, sich nie offen artikulierende Unterdrückung. Umso subtiler der Druck auf Marcus wird, umso unnachgiebiger wird er, umso fundamentaler wird sein Widerstand. In ihm wächst die Empörung.

Schon das dem Roman vorausgeschickte Motto, ein Zitat von E. E. Cummings aus “i sing of Olaf glad and big” : “Olaf (auf dem was einst Knie waren) wiederholt schier unablässig: nicht jeden Mist fress ich” macht stutzig.
Die Überschrift des ersten Kapitels “Unter Morphium” steht quasi wie ein Damoklesschwert über den ersten 190 Seiten der insgesamt 200 Seiten (die Auflösung wird erst im zweiten Kapitel geliefert), die der Roman umfasst. Dessen erste Sätze beschreiben den historischen und politischen Kontext der Geschichte: “Ungefähr zweieinhalb Monate nachdem die gutausgebildeten, von den Sowjets und den chinesischen Kommunisten mit Waffen ausgerüsteten Divisionen Nordkoreas am 25. Juni 1950 über den 38. Breitengrad vorgedrungen waren und mit dem Einmarsch in Südkorea das große Leid des Koreakriegs begonnen hatte, kam ich aufs Robert Treat, ein kleines College in Newark, benannt nach dem Mann, der die Stadt im siebzehnten Jahrhundert gegründet hatte.”
Die Jungen seines Jahrgangs, so erzählt uns Marcus Messner, wollen ihren Abschluss machen um dann als Offiziersanwärter bei den Marines anheuern zu können, um sich in Korea den Kommunisten in den Arm zu werfen. Zugleich hoffen alle, dass der Krieg vor ihrem Abschluss zu Ende sein möge. Ohne Abschluss von der Schule abzugehen ist gleichbedeutend mit sofortiger Rekrutierung als einfacher Soldat, als Kanonenfutter für die erste Reihe. Die Angst, die mit diesem Wissen einhergeht ist für die Jungen sehr konkret und hat Gesichter und trägt Namen. Die großen Brüder, die älteren Cousins waren erst fünf Jahre zuvor von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs, aus Europa, aus Japan, aus Indochina zurückgekehrt. Oder eben nicht.

Das zweite Kapitel des Romans umfasst fünfeinhalb Seiten. Marcus hat seinen Widerstand in Winesburg nicht eingestellt. Seine Empörung ist gewachsen und in der Konsequenz bedeutet dies für Marcus: “Verschwinden Sie! Gehen Sie! Sie haben Marschbefehl! Packen Sie ihre rebellische Überheblichkeit und scheren Sie sich noch heute Abend aus Winesburg fort!” Kein happy ending rettet diese Geschichte.


Genre: Romane
Illustrated by Hanser

Kültür alakart

Das Kennenlernen kulinarischer Kultur befördert das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen. Diese Behauptung trifft zu und ist grundverkehrt. Sei trifft zu, weil man sich normalerweise am Tisch, während des Essens, nicht den Kopf einschlägt. Sie trifft für alle Menschen zu, die neugierig auf andere Menschen und deren Kultur sind. Sie trifft auch für Diejenigen unter uns zu, die mit „Fremden“ fremdeln, die man aber bei einem leckeren Essen aus ihrem Misstrauen herausholen kann.
Grundverkehrt ist die Annahme, man könne Rassisten durch das Servieren von Köstlichkeiten fremder Kulturen bekehren.
Da wir alle darauf angewiesen sind, dass die Gutwilligen, die Neugierigen und die Sinnlichen sich von Unbelehrbaren nicht frustrieren lassen, sind solche Projekte wie das Buch „kültür alakart“ aus dem Verlag „Tre Torri“ hochwillkommen und sehr zu begrüßen.

„Kültür alakart“, im Untertitel: „Das türkisch-deutsche Kulturkochbuch!“ ist sowohl ein Lese-, wie ein Kochbuch. 24 türkische, bzw. türkischstämmige Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft werden jeweils mit einem Interview portraitiert. Diesen Portrait folgen Rezepte aus der türkischen Küche, die durch die Vorgestellten ausgewählt wurden. Handelt es sich bei den Promis um Angehörige der schreibenden Zunft, wird mit einer Leseprobe zudem Appetit auf deren literarisches Oeuvre gemacht.
Extra-Kapitel zu den Themen „Essen und Trinken“, „Teekultur“ sowie „Kaffeesatzlesen“ ergänzen die kulinarischen Informationen.

„Kültür alakart“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Studiengangs Kommunikationsdesign der Fachhochschule Wiesbaden, des Fachbereichs Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg Universität Mainz und des Tre Torri-Verlags.
Das Buch ist nicht nur schön gestaltet, sondern in jeder Hinsicht informativ und appetitanregend. Es nimmt die kulinarische Kultur ebenso Ernst, wie die Vita der Befragten und ist deshalb nicht nur politisch korrekt, sondern auch ein sehr interessantes Kochbuch der türkischen Küchen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tre Torri Wiesbaden

Über Venedig, Musik, Menschen und Bücher

Wer mit einem literarischen Serienhelden so erfolgreich ist, wie Donna Leon mit ihrem „Commissario Brunetti“ (oder ist vielleicht die wirkliche Serienheldin doch Venedig?) wird vom Publikum gerne auf die Rolle als „Autorin der Brunetti-Romane“ reduziert. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass der seit nunmehr fast dreißig Jahren in Venedig lebenden US-Amerikanischen Schriftstellerin das Verfassen der Kriminalromane mit ihrem sympathischen Kommissar Guido Brunetti nicht als „Reduktion“ auf Etwas vorkommt.
Dass Donna Leon auch die kleine literarische Form beherrscht, dass sie kurze Geschichten erzählen, Glossen verfassen und auch journalistische Beiträge verfassen kann, dies ist in dem Sammelband „Über Venedig, Musik, Menschen und Bücher“ nachzulesen.
Das Buch, schon 2005 im Diogenes Verlag erschienen, versammelt in sechs Kapiteln kurze Texte, die die Autorin zwischen 1997 und dem Jahr 2005 veröffentlicht hat. In diesen, zumeist sehr kurzen Texten, beschreibt Donna Leon ihre Wahlheimat Venedig, („Weil es keine Autos gibt, hat Venedig die Freiheit, zumindest für seine Bewohner das zu sein, was es an Zahlen gemessen ist: eine Provinzstadt mit kaum 70.000 Seelen, wo eine der wichtigsten Quellen der Unterhaltung der Klatsch ist und wo es folglich keine Geheimnisse gibt.“ Seite 12), offenbart ihr Fremdeln mit elektronischer Kommunikation („E-Mail-Monster“, Seite 297), schwärmt für den klassischen Gesang („La Serve fedele – Cecilia Bartoli“, Seite 85) oder verrät etwas über ihre eigentliche Heimat im Kapitel „Über Amerika“.
Die Texte sind heiter, amüsant, kritisch und ernst. Vor allem sind sie gut geschrieben, von einer Schriftstellerin, die ihr Handwerk versteht und die wir hier „jenseits von Brunetti“ erleben können.


Genre: Kolumnen
Illustrated by Diogenes Zürich

Onkel Wumba aus Kalumba

Wilhelm Ruprecht Frieling, prominent-distinguierter Lebemann, Multimedia-Star und stolzer Herausgeber dieses virtuellen Magazins hat wieder zugeschlagen und bringt der darbenden Fangemeinde ein neues Werk dar, trefflich betitelt „Onkel Wumba aus Kalumba“.

Dieses Mal greift der Meister kaum selbst zur Feder, sondern nimmt sich einer der Geißeln des neuen Millenniums an, indem er mit bewundernswerter Akribie Spam-Mails aus aller Welt zusammen getragen hat, die sich stets um dasselbe Thema drehen. Und nein, damit meine ich nicht die mittels Zauber-Pülverchen erreichbaren notwendigen Verlängerungen mittig-männlicher Körperteile…

Hand auf’s Herz: Wer von uns verzeichnete noch nie erhöhten Pulsschlag angesichts eines im elektronischen Postfach avisierten satten Lotteriegewinns? Wer träumte nicht schon mal von einem sorgenfreien Leben in Saus und Braus dank Dollar-Millionen, die es auf verschlungenen Pfaden völlig risikolos aus dem tiefsten Afrika nur abzugreifen gilt? Und welcher geplagte Werktätige ließe sich nicht locken mit den Versprechen absolut stressbefreiter Spitzenjobs, die selbstverständlich astronomisch dotiert sind?

In diesem Büchlein wird das begehrliche Herz fündig, dem modernen Entrepreneur steht die Internet-Welt offen und der sichere Reichtum lauert nur zwei Klicks entfernt: Mal benötigen GI’s Hilfe, um Goldschätze aus dem Irak zu schaffen, verzweifelte Prinzessinnen aus Hongkong kämpfen gegen raffgierige Familienmitglieder um ihr Erbe und stellen dafür eine großzügige Belohnung in Aussicht oder ein gutherziger Bankdirektor aus Ouagadougou in Burkina Faso (man möchte ja nicht mit den schwarzen Schafen der Nigeria-Connection verwechselt werden) verteilt guten Gewissens Schwarzgelder, wie um den gestrengen obersten Finanzherrn Steinbrück in seinem ritterlichen Kampf zu bestätigen.

Die mit viel Mühe und Fantasie gesponnenen geheimnisvollen Geschichten sind im Original enthalten, schauderhaft krudes Deutsch respektive zerbrochenes Englisch all inclusive. Autor Frieling hat diese Zeitdokumente unverändert übernommen und gibt somit nicht nur die Absender (mit kompletten Mail-Adressen und Telefonnummern) dem voyeuristischen Auge des Lesers preis, sondern entlarvt gleichzeitig auch die gierigen Tölpel, die trotz tausendfacher Warnungen immer noch auf diesen Blödsinn hereinfallen. Und wenige sind das nicht, die zwielichtige Abzocke floriert flott weiter, wie ein allmorgendlicher Blick in die Mailbox beweist…

Natürlich darf in dem Buch auch die den Hardcore-Fans wohlbekannte und heißgeliebte Titelgeschichte nicht fehlen, in der sich der Autor auf höchst humoristische Weise mit eben diesen üblen Machenschaften befasst, hört selbst:

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Haus der Schildkröten

Es trifft fast jeden, obwohl man es tagtäglich verdrängen möchte: das Altern und das reale Leben an sich.

Was fühlt ein alter Mensch bzw. fühlt er nicht mehr, wenn er ab sofort auf fremde Hilfe bis an sein sicheres Lebensende angewiesen ist? Was bedeutet es, als Kind seinen Vater oder seine Mutter allwöchentlich im „Haus der Schildkröten“ zu besuchen?
Annette Pehnt hat kein Sachbuch über das Alter und die damit verbundenen oft verdrängten Begleiterscheinungen geschrieben, obwohl dem Buch eine gründliche Recherche vorausgegangen sein muss.
Vielmehr lässt uns die Autorin langsam und mit genauer Beobachtungsgabe, in das Leben ihrer Protagonisten im „Haus Ulmen“ eintauchen: Frau von Kanter, die kein Wort mehr sprechen kann und trotzdem kommuniziert; der demente Professor, dessen Bewegungsdrang sich immer mehr steigert und der in seiner Enkeltochter Lili seine schon lange verstorbene Frau wiederentdeckt; Frau Hint, die früher so gerne reiste und sich nun in Herr Lukans Hände verliebt; Schwester Gabriele, die ihren täglichen Job macht; und Pfleger Maik, der von den Heimbewohnern besonders gemocht wird, aber von seiner Freundin abgewiesen wird, weil er den süßlichen Heimgeruch mit nach Hause bringt…
Jeden Dienstag besuchen Regina ihre Mutter, Frau von Kanter, und Ernst seinen Vater, den Professor, im „Haus Ulmen“. Sie ertragen diese Besuche mehr als das sie sie lieben, bis sich ihre Wege an einem Dienstag unter den Augen der Immergleichen kreuzen…

Zuneigung und Liebe sind kein Privileg der Jugend. Die Liebe kommt, wann sie kommen will und sie verweilt, wenn wir sie trotz aller Zweifel zulassen. Ob sie von Dauer ist, lässt die Autorin ganz bewusst offen, und damit dem Leser genug Raum, die Geschichte für sich weiter zu schreiben oder Parallelen zu seiner eigenen Lebensgeschichte zu entdecken.
Das Buch ist gewiß keine Dutzendgeschichte über die Liebe und das reale Leben, sondern ein besonders gelungenes Kleinod, das nicht auf dem bereits übersättigten Buchmarkt übersehen werden sollte, und hoffentlich noch viele Leser findet.


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

In darkest Leipzig

Als der Autor anno 2004 für ein studienbegleitendes Praktikum nach Tansania aufbrach, vermutete der angehende Ethnologe noch, dass Fremdartigkeit und Exotik in anderen Kulturen beheimatet wären, und er mit jedem Flugkilometer diesem Phänomen näher kommen könnte. Doch nicht in der Weite des schwarzen Kontinents stieß er auf das Gesuchte. Die Fremde wartete vielmehr nach seiner Rückkehr direkt vor seiner Wohnungstür in Leipzig-Lindenau.

Lindenau ist ein Stadtteil im Westen der sächsischen Stadt Leipzig. Hervorgegangen aus einem vor rund 1000 Jahren von deutschen Bauern gegründeten Dorf entwickelte sich der Ort zu einer prosperierenden Industriegemeinde. Mit der Wende brach die Industrieproduktion zusammen, der Stadtteil zerfiel. Heute ist er von Industriebrachen und hoher Arbeitslosigkeit geprägt. In diesen Teil Leipzig verschlug es den jungen Ethnologen.

Während der Autor die Nächte dafür verwendete, die dunkle Romantik in den Ruinen von Lindenau aufzusuchen, war er tagsüber damit beschäftigt, die seltsamen Menschen zu beobachten, die den Gestalten mancher Albträume nicht unähnlich sahen. Es schien ihm, als trügen viele Bewohner eine dämonische Kraft in ihrem Innersten, etwas Böswilliges, Verbittertes. Etwas, das versuchte, die Träume derer, die noch an den Zauber der Welt glaubten, in der Bitternis der eigenen Unzufriedenheit zu ertränken. Horden von Säufern mit üblen Knasttattoos und fettigen Haaren lungerten auf den Straßen. Ihre aschbleichen Gesichtszüge mit den blutunterlaufenen Augen erschienen wie die Überreste einer fremdartigen Kriegbemalung für einen Feldzug, der schon lange verloren war.

Als Ergebnis seiner zwölfmonatigen Feldforschung liefert Schweßinger einen ethnografischen Bericht, der den Leser staunen macht. Denn die Lindenauer scheinen um ein Vielfaches exotischer als die Menschen im tiefsten Afrika. Er meint sogar, die Wilden, für die manche Afrikaner gern gehalten werden, seien eher in den Straßen Lindaus anzutreffen als in den Weiten des schwarzen Kontinents und schildert zum Beweis die Bewohner mit ihren bizarren Gesichtern und unbekannten Sitten.

Es sind Expeditionen in die Leipziger Finsternis, die den Leser des Buches erwarten. Nach der Lektüre der Schilderungen des begeisterten Ethnologen ist eines klar: Wanderer, kommst du nach Leipzig, meide Lindenau! Denn dieser Stadtteil ist keine Reise wert.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Edition PaperONE Leipzig

Ruhm

Höchste Zeit, daß einer „Reason“ reinbringt, sorgt sich Internetblogger Mollwitz und kann endlich zum 12 342. Mal im Abendnachrichten Forum posten. Hier hat er alles im Griff und etwas zu sagen, hier wird er weder gemobbt noch gehätschelt, kann auf arbeitsgeile Kollegen und übermenschliche Mutterliebe pfeifen. Doch dann geht etwas gründlich schief – er muß den Chef auf einem Kongreß vertreten und vermasselt seinen Auftritt. Mehr noch: Ganz nah dran ist der dicke Suchtblogger an Leo Richter, dem bekannten Schriftsteller, und fast schon Teil einer neuen Geschichte, aber dann wird auch das nichts, und also wird es nie.
Im Gegensatz zum fanatischen Blogger ist die Freundin des produktiven Leo R. fest im Leben verhaftet und strikt dagegen, Teil einer Geschichte zu werden. Rosalie dagegen steckt schon mittendrin in einer Geschichte und soll gerade sterben gehen. Als es ernst wird, geht sie stattdessen auf die Barrikaden. Ein frischgebackener Handybesitzer wird in eine fremde Geschichte hinter dem Telefon hineingezogen, während das Mobiltelefon eines berühmten Schauspielers den Dienst verweigert und gleichsam den Draht zur Welt kappt. Auf dem Gipfel des Ruhms droht ein rasanter Absturz – oder doch ein Neubeginn?
Neun Geschichten hat Daniel Kehlmann zu einem Roman verwoben, neun Fäden von unterschiedlichster Textur und Farbe miteinander verknüpft, und jedes der neun Teile ist auf seine Weise einzigartig. Ohne Euphorie auszulösen, fasziniert und überzeugt auch dieses neue Werk von Kehlmann. Er hat dem ungeheuren Erwartungsdruck des Publikums standgehalten und sich seine Leichtigkeit und Erzählfrische bewahrt. Und er hat die Chance genutzt, die riesige Palette seiner Sprachkunst auszuspielen. Lakonisch, schnodderig, kultiviert – der Autor bewegt sich souverän durch Raum und Stil.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Café Vigata. Andrea Camilleri im Gespräch

„Benvenuti a Porto Empedocle (Vigata)“, „Herzlich willkommen in Porto Empedocle (Vigata)“. Damit hat sich der Geburtsort von Andrea Camilleri dem literarischen Hauptort der Geschichten Andrea Camilleris gebeugt. Ähnliches ist bisher nur zwei anderen Orten, aus denkbar unterschiedlichen Gründen, geschehen: Zur Einführung einer neuen Generation des „Golf“ nannte sich die niedersächsische Kfz-Metropole Wolfsburg nach ihrem allgegenwärtigen Autoproduzenten und das Dorf Aracataca, der Geburtsort des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez benannte sich konsequenterweise nach dem Ort, in dem der Literat sein Hauptwerk „Hundert Jahre Einsamkeit“ spielen lässt: Macondo. In Porto Empedocle wurde zwar der offizielle Name der Stadt nicht geändert.
Das Café allerdings, in dem Andrea Camilleri, der seit mehr als drei Jahrzehnten in Rom lebt, während seiner regelmäßigen Besuche sitze, wurde ihm zu Ehren in „Café Vigata“ umbenannt.
In diesem Café verbringt der berühmteste und nun schon seit Jahren auch erfolgreichste Schriftsteller Italiens ganze Tage. Wäre Camilleri nicht ein in der Wolle gefärbter Republikaner und linker Demokrat, ließe sich sicher schreiben, er hielte dort „Hof“. Er trifft im Café Vigata Freunde ebenso wie Journalisten oder Verleger zum Gespräch. Er liest dort, schreibt und lässt das Leben an sich vorbeiziehen.
Ein Buch, dass Gespräche mit ihm dokumentiert, könnte also eigentlich gar keinen anderen Titel als den Namen dieses Cafés tragen. Die Gespräche in diesem überaus lesenswerten Buch drehen sich weniger um seine politischen Ansichten und Betrachtungen seines verrückten Vaterlandes als vielmehr um sein Leben, seine Bücher und seine Beziehung zu Menschen, Orten, Häusern und Plätzen seiner sizilianischen Heimat – und um seine Liebe zum Meer. Die Küste und das Mittelmeer sind es vor allem, die ihm in Rom fehlen und derentwegen er regelmäßig zurückkehren muss.
Immer amüsant, geistreich und beileibe nicht banal ist das, was hier auf 134 Seiten nachzulesen ist. Camilleri lenkt dabei mehr die Gespräche durch seine Erzählungen, als dass er sich darauf beschränke ließe auf die Fragen des Journalisten Lorenzo Rosso zu antworten. Immerhin erfahren wir, dass der Meister seinen wichtigsten Protagonisten, Kommissario Montalbano, literarisch längst in die Wüste geschickt hat. Nur veröffentlicht ist das noch nicht. Wann aber das Ende dieser überaus beliebten Krimireihe droht, verrät Camilleri natürlich nicht.


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Neulich in Neukölln

Uli Hannemann zog 1985 nach Berlin und landete ausgerechnet im tiefsten Neukölln. In herrlichen Wortbildern beschreibt er den Alltag in seinem Kiez mit distanziertem Wohlwollen und versprüht dabei rabenschwarzen Humor.

Der schreibende Taxifahrer und Lesebühnenmatador erzählt die Geschichte eines neureichen Münchener Neumieters, den er am offenen Fenster beim Telefonieren abhört, während dessen Kätzchen erstmals das Terrain erkundet und sogleich von fetten Ratten in mundgerechte Häppchen zerlegt wird. Er schildert die strahlende Wiedergeburt des Tante-Emma-Ladens als Onkel-Mehmet-Gemischtwarenhandel, bei dem es rund um die Uhr alles und nichts zu kaufen gibt. In seinem Argwohn gegen den Staat, der nichts ist als »ein schlampiger, alter Kumpel, der sich Bücher, Videos und Geld leiht und niemals zurückgibt«, spricht er dem Neuköllner aus dem Herzen, der in diesem Punkt zum gemeinsamen Widerstand findet.

In seinen Notizen von der Talsohle des Lebens skizziert Hannemann seine Mitmenschen als Alkoholiker, Schreihälse, Schläger, Krachmacher und Drogendealer, die ihn umzingelt haben.

Keinesfalls darf das Thema Hundekot fehlen, denn wer einmal in Pitbull-Scheiße getreten ist, weiß, dass er in Berlin-Neukölln unterwegs ist. Dort verhüllt die Kotschicht das öffentliche Straßenland zeitweise so flächendeckend, dass es für Rettungs-, Reinigungs- oder ähnlich verantwortliche Kräfte nahezu unmöglich ist, überhaupt in die Gegend vorzudringen. Die »Tretminendichte« in Neukölln sei die höchste von ganz Deutschland, konstatiert der Autor; gerade das Gebiet zwischen Hermannstraße und Flughafen Tempelhof sei zur buchstäblichen »No-Go-Area« geworden. Lediglich die Erfindung einer »Schlorkmaschine«, mit der die Haufen gezielt aufgesaugt werden können, schlügen Schneisen in das Grauen und verhinderten, den wohl anrüchigsten Kiez Deutschlands in letzter Sekunde vor der Vernichtung und dem Vergessen zu bewahren.

»Neulich in Neukölln« ist eine spröde Liebeserklärung an den Bezirk, der mit Rütli-Schule, Ehrenmorden, Hundekot und Unterschicht verknüpft ist. Es sind mit Biss und anarchischem Humor gefertigte Momentaufnahmen vom Alltagswahnsinn einer deutschen Innenstadt.


Genre: Kolumnen
Illustrated by Ullstein Berlin

Das Herz des Jägers

Thobela Mpayipheli ist ein großer und starker Mann. Er arbeitet als „Mädchen für alles“ in einer BMW-Motorrad-Vertretung in Kapstadt. Thobela Mpayipheli hat eine Freundin, die er liebt und deren kleiner Sohn hat an ihm einen Narren gefressen.
Thobela Mpayipheli führte einmal ein ganz und gar nicht so friedliches Leben. Während der letzten Jahre des rassistischen Apartheidregimes war er „Umzingeli“ – was in der Sprache seines Volkes, der Xhosa, Jäger bedeutet. Dieser Riese war ein Soldat des bewaffneten Arms der südafrikanischen Befreiungsbewegung African National Congress von Nelson Mandela.
Als eines Tages ein alter Freund von Thobela die Begleichung einer Ehrenschuld einfordert, bricht dieses vorherige Leben in sein Jetziges hinein und verändert von einem Tag auf den anderen Alles.

Thobela soll eine Festplatte mit Datenmaterial für seinen Freund nach Mozambique bringen. Dort halten Unbekannte diesen Freund gefangen und drohen ihn umzubringen, falls diese Festplatte nicht binnen 48 Stunden ausgeliefert wird. Mit einer schweren BMW, einem Geländegängigen Motorrad macht sich Thobela auf den Weg. Dabei wird er vom südafrikanischen Geheimdienst verfolgt, der die Auslieferung der Daten verhindern möchte. Die Reise, die wir lesend mitverfolgen ist zugleich eine Reise zurück in die jüngere Geschichte Südafrikas. Der Befreiungskampf gegen die Rassisten, die Ausbildung Thobelas zum Agenten der Befreiungsarmee und dessen Leben als „Tötungsmaschine der Befreiung“ wird ebenso Thema, wie die Wehen, unter denen die südafrikanische Demokratie seit dem Ende des Apartheidregimes geboren wird.

Dieser Thriller ist sowohl eine spannende Geschichtslektüre als auch ein mitreißender Roman, den man nur schwer aus der Hand legen kann. Prädikat: Hochspannend.

Deon Meyer wurde 1958 in Südafrika geboren. Als Reporter arbeitete er lange Zeit, bevor er 1994 seinen ersten Roman vorlegte. Heute gilt er als der erfolgreichste Krimiautor Südafrikas. Deon Meyer schreibt seine Bücher in Afrikaans und lässt sie dann ins Englische übersetzen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Unbekannter Verlag

Das Mädchen, das sterben sollte

Auf dem Filmset von Megastar Thomas Bayne in der libyschen Wüste geht eine Bombe hoch und tötet fast hundert Leute. Die Welt hält 99 Minuten lang den Atem an, bis feststeht, dass Bayne nicht zu den Getöteten zählt. Während dessen sucht die 28jährige Fremdenführerin Susan Mantle eine Wahrsagerin, Dawn Sage, auf, mit der sie in einem Haus wohnt. Von ihr will sie wissen, ob ihr neuer Freund der Richtige für sie ist. Doch die Prophezeiung der geheimnisvollen Seherin wirft sie aus der Bahn. »Sie werden berühmt. Sie werden reich. Sie werden über Erde und Wasser reisen. Sie werden einem großen dunklen Fremden begegnen. Sie werden Nein zu ihm sagen bis zu dem Tag, an dem Sie Ja sagen. Am Tag darauf werden Sie sterben.«

Völlig verwirrt stolpert Susan aus der Höhle der Wahrsagerin und läuft tränenüberströmt einem Fernsehteam in die Arme, das Stellungnahmen zu dem Attentat sammelt. »Dem Tod wird kein Reich mehr bleiben«, stammelt sie unter dem Eindruck der Nachricht vom bevor stehenden eigenen Tod weinend in die Kamera, ohne zu wissen, worum es den Interviewern überhaupt geht. Die mysteriöse Stellungnahme gelangt in die Nachrichten und wird dort immer wieder gezeigt. Bald ist Susan »das geheimnisvolle Mädchen« und wird über Nacht berühmt. Die erste Prophezeiung der Wahrsagerin geht damit in Erfüllung.

Schon am nächsten Tag ist das geheimnisvolle Mädchen in aller Munde. Zeitungen drucken ihr Konterfei und PR-Berater belagern sie am Telefon. Von einem Unbekannten wird eine Million Dollar auf ihr Konto überwiesen, und damit trifft auch der zweite Teil der Weissagung ein. Susan bekommt Angst und würde am liebsten der Wahrsagerin die anonyme Million überweisen, damit keine weiteren Voraussagen in Erfüllung gehen. Ehe sie sich versieht, haben jedoch die Medien Besitz von ihr ergriffen. Filmstars, Rockgenies und die Shakespeare Company wollen mit ihr gemeinsam auf Sendung gehen, doch sie verkriecht sich in ihrem Bett, um dem verkündeten Schicksal zu entgehen. Clevere Fernsehleute machen daraus die Reality-Show »The Babe in Bed Forever«.

Susan Mantle will einfach nicht berühmt werden und wehrt sich gegen das Liebeswerben quotengieriger TV-Typen, spirituell erleuchteter Hollywood-Stars, Ex-Lover und angeblicher Freundinnen, die sich um sie versammeln. Je mehr sie sich dem Trubel zu entziehen versucht, desto mehr wird sie in den Mahlstrom hinein gezogen. Selbst verliebte Zyniker, Depressive und voll verblödete Typen geben sich die Tür in die Hand und lassen ein Bild vom Narrenhaus entstehen, das sich Fernsehen nennt.

Das Buch, dessen Titel im ersten Augenblick wie ein Kriminalroman wirkt, ist tatsächlich ein höchst verschachtelter Dialogroman mit Anspruch. Der gesamte Text besteht ausschließlich aus ständigen Telefonaten und Gesprächen mit Eltern, Freundinnen, Freunden, Managern und anderen Figuren. Abgesehen von der Kunstfertigkeit, mit der die Handlung entwickelt und erzählt wird, verlangt der Text vom Leser höchste Konzentration, um der Satire folgen zu können.


Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München

November 1918 – Eine Deutsche Revolution

Band 1: Bürger und Soldaten

Es sind die ersten Novembertage des Jahres 1918, der Kaiser ist nach Holland geflüchtet, der Krieg für Deutschland verloren. In einem elsässischen Städtchen warten Soldaten und Zivilisten gleichermaßen gebannt auf Neuigkeiten in diesen unruhigen Zeiten der Irrungen und Wirrungen, sie hören die Kunde einer Revolution, ausgehend von Matrosen in Wilhelmshaven und von dort weiter getragen in das ganze deutsche Reich. Wir begleiten – unter anderen – den verwundeten Oberleutnant Becker, einen Gymnasiallehrer auf der Suche nach neuen Werten und dürfen miterleben, wie die tief gespaltene Bevölkerung sich auf die Besetzung durch französische Truppen vorbereitet.

Band 2: Verratenes Volk

Zerrissenheit herrscht auch in der Reichshauptstadt Berlin: Die regierenden Sozialdemokraten Ebert und Scheidemann paktieren im Geheimen mit den alten Mächten, die sich um General Hindenburg scharen; hart bedrängt von den Spartakisten Karl Liebknecht und Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten, die nicht bereit sind, ihre Ideale zu verraten und deshalb auf eine echte sozialistische Revolution pochen. Doch wiederum folgen wir ebenso den einfachen Leuten auf ihren verschlungenen Wegen, treffen elegante Kriegsgewinnler und dekadente Schieber, versprengte Deserteure und lustige Witwen. Auch Becker ist wieder in Berlin bei seiner Mutter, wo er sich von den Verletzungen an Körper und Seele erholt. Die politische Krise eskaliert, als am 6. Dezember Gardesoldaten unbewaffnete Spartakus-Demonstranten angreifen und dabei etliche töten.

Band 3: Heimkehr der Fronttruppen

US-Präsident Wilson reist per Schiff nach Europa um seine humanistischen Vorstellungen einer neuen Weltordnung zu präsentieren, aber seine Vision eines gerechten und dauerhaften Friedens und der Aufbau eines Völkerbundes scheitern in der Konferenz von Versailles am Kleingeist und Egoismus der europäischen Staaten. Währenddessen kehren in Deutschland die Soldaten aus dem Krieg heim, ermüdet und desillusioniert zerfällt die einst so gefürchtete Armee. Die Reichsregierung gerät zunehmend zwischen die Fronten der Generale und Spartakisten; der Kleinbürger Ebert verliert dabei immer mehr den Überblick und auch seine letzten Ideale. Becker dagegen findet in der Krankenschwester Hilde eine neue Liebe und kämpft zusammen mit ihr gegen dunkle Dämonen der Depression und Kriegsbilder, die ihn immer wieder quälen. Schließlich gelangt er zum christlichen Glauben, allerdings zu der radikalen Variante des Neuen Testaments; eine Wandlung, die ihn Freunde und Weggefährten kostet.

Band 4: Karl und Rosa

Becker kehrt für kurze Zeit in den Schuldienst zurück, doch er bemerkt schnell, dass das nicht mehr seine Welt ist. Er verliert seine Liebste und wird auf eine harte Probe gestellt: Seine Güte und Menschlichkeit führen ihn in das von Spartakisten besetzte Polizeipräsidium, als es von Regierungstruppen angegriffen wird. Schnell erkennt er, wohin er gehört und kämpft Seite an Seite mit seinen neuen Genossen. Er wird verwundet und festgenommen, lehnt aber eine Begnadigung ab und geht für 3 Jahre ins Gefängnis. Unfähig, sich danach wieder in die ihm fremd gewordene bürgerliche Gesellschaft einzufügen, zieht er als Landstreicher und Rebell durch die Gegend, um schließlich einsam, doch mit geretteter Seele zu sterben.

Rückblende auf die Kriegsjahre: Die revolutionäre Freiheitskämpferin Rosa Luxemburg sitzt in einem Breslauer Kerker und leidet unter der ihr aufgezwungenen Tatenlosigkeit. Endlich ist der Krieg zu Ende und sie – wie auch Karl Liebknecht – wird entlassen. Die beiden gehen nach Berlin, wo sie dringend gebraucht werden, denn Reichskanzler Ebert tut dort alles, um die Revolution zu stoppen. Die Stunde scheint günstig für die Aufständischen, Liebknecht mobilisiert die Massen, doch anstatt gemeinsam dieses Potenzial zu nützen, ergehen sich die übrigen Parteiführer in endlosen Diskussionen und Theoriedebatten; es sind eben sehr deutsche Revolutionäre. Die Regierung wird von derartigen Skrupeln nicht geplagt, Ebert überlässt es seinem Bluthund Noske, die Gegenrevolution zu organisieren und der fackelt nicht lange. Inzwischen in Berlin eingetroffene Offizierstruppen jagen Karl und Rosa, fassen sie schließlich mit Hilfe von Verrätern und erschlagen die beiden auf der Stelle man schreibt den 15. Januar 1919. Die feigen Mörder gehen mit Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung straffrei aus, die deutsche Revolution ist zu Ende.

Alfred Döblin ist den meisten Literaturfreunden wohl hauptsächlich durch „Berlin Alexanderplatz“ bekannt, ein Buch, das mich ehrlich gesagt nie sonderlich begeistert hat. In seiner Revolutionstetralogie dagegen zeigt er, dass er sein Handwerk wirklich versteht: Ohne falsches Pathos verknüpft der Autor die historische Entwicklung mit den Geschicken zahlreicher fiktiver Romanfiguren, dabei entsteht ein wunderbar schlüssiges Gesamtbild, ein Sittengemälde dieser spannenden Zeit. Trotz etlicher Nebenhandlungen verzettelt er sich nicht, der Fokus bleibt stets streng erhalten. Die Bücher sind in überschauliche Kapitel gegliedert, die sich in Stil und Inhalt bisweilen erheblich unterscheiden. Mystischen Begegnungen der Protagonisten mit Geistern, Engeln und Dämonen folgen nüchterne Beschreibungen von Truppenverschiebungen, allzu menschliche Liebesaffären werden abgelöst durch tagebuchähnliche Gedanken der Spree in Berlin und wenn es nötig ist, meldet sich der Verfasser auch selbst zu Wort.

„November 1918“ ist weitaus mehr als die Verarbeitung historischer Ereignisse, Döblin erteilt eine Geschichtslektion und bezieht Stellung: Deutlich zutage tritt seine kritische Sympathie für die Revolutionäre des Spartakusbundes (nicht umsonst trägt Band 4 den Titel „Karl und Rosa“), ebenso wie seine Verachtung für die Sozialdemokratie der Genossen Ebert und Noske, die für ihren Verrat am Volk und der Sache mit sorgfältig ausgesuchten Worten voller Zynismus und Sarkasmus bedacht werden. Aber auch die andere Seite bekommt ihr Fett weg; für eine echte Revolution waren sie wohl doch zu deutsch, Respekt vor den Symbolen des Staates, aber auch vor den Theorien ihrer geistigen Lehrer verhinderten die notwendige Spontaneität und Skrupellosigkeit.

Die vier Romane schrieb Döblin in einem Zeitraum von mehr als 15 Jahren auf der Flucht vor den Nazis im Exil. Eine der Hauptfiguren, Studienrat Dr. Friedrich Becker, trägt autobiographische Züge, denn wie der Autor findet er schließlich zum christlichen Glauben in einer radikalen Prägung, die ihm ein Verbleiben in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich macht. Auch Döblin sah sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert, als er nach dem zweiten Weltkrieg sein Manuskript anbot; erst in den 70er-Jahren wurde das Werk in kompletter Form veröffentlicht. Nicht nur denen, die sich für diesen Abschnitt deutscher Geschichte interessieren, sondern auch allen anderen, die einfach Freude an gepflegter Literatur empfinden lege ich es wärmstens ans Herz.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

Pornostern

PornosternNamenlos jobbt ohne Erfolg und Anspruch in einer Versicherungsagentur und fristet ein eher erbärmliches Junggesellendasein. Lediglich Ex-Freundin Andrea dringt gelegentlich telefonisch zu ihm durch und erkundigt sich nach seinem Zustand. Ansonsten ist sein einziger Gesprächspartner ein kleiner braungrüner Kaktus, der aus einem Müllhaufen stammt. Diesen stacheligen Mitbewohner tauft er »Rod«, weil dies auf einem Etikett an dessen Unterseite steht.

Seine Zeit verbringt der Ich-Erzähler am liebsten vor dem Fernseher oder in seiner Stammkneipe »Peaches«. Dort verpasst er sich die tägliche Dröhnung. Eines eintönigen Tages lernt er einen Goldkettchenträger kennen, der ihm wie eine Mischung aus Zuhälter und Ramschkönig vorkommt. Der neue Bekannte entpuppt sich als Betreiber eines Pornolabels und bietet ihm einen Job an. Nach einem kurzen Disput zwischen seiner ständigen Trägheit und einer beklemmenden Ebbe des Kontostandes nimmt er das Angebot an und tritt seinen Dienst als Deckhengst des Filmchenmachers an. Künftig darf er willige Novizinnen vor der Kamera vögeln und wird dafür sogar noch gut bezahlt.

Skrupel sind ihm fremd, und über Geschmack macht er sich keine Gedanken. Besonderen Genuss bietet ihm lediglich ein Wiedersehen mit einer Beraterin einer Arbeitsvermittlung, der er nach Vollzug ins Gesicht spritzen und sagen darf, er habe jetzt den seiner Qualifikation entsprechenden Job gefunden.

In seiner neuen Tätigkeit geht er voll auf und findet dabei sogar zu einer eigenen Identität. Als Hommage an seinen Kaktus wählt er den Künstlernamen Rod Reptile. Regelmäßige Nasen Koks, die ihm seine neuen Arbeitsgeber versorgen, tragen dazu bei, sein Selbstbewusstsein zu stärken. Sein Geld trägt er weiterhin in seine Stammkneipe, in der er eines schönen Tages sogar seine Traumfrau kennen lernt. Mit der knackigen Jasmin ist er bald fest zusammen und genießt die Zweisamkeit.

Da er ahnt, dass seine neue Liebe wenig erbaut auf seine Erwerbstätigkeit reagieren würde, täuscht er sie mit Lügengeschichten. Wenn das Telefon klingelt, steht er weiterhin stets zur Verfügung, um neue Damen, wie die 24jährige Fitnesstrainerin Claudia, die »neue Herausforderungen« sucht und sich als Filmsternchen bewirbt, einem gründlichen Leistungstest zu unterziehen. So kommt es, wie es kommen muss: eines bösen Tages wirft Jasmin ihrem geliebten Rod eine DVD mit dem prosaischen Titel »Ehehuren«, in der er als Hauptdarsteller wirkt, vor die Füße und verlässt ihn tief enttäuscht.

Rod Reptile ist wieder mutterseelenallein und steigt noch tiefer ins Pornobusiness ein. Er träumt von einer Solokarriere mit professionellen Darstellerinnen und entwickelt sich allzeit bereit, immer bereit, zum Pornostern. Koks, Aufputschmittel, Alkohol und Potenzpillen helfen ihm, in jeder Situation als Mann zu bestehen. Dabei bricht er charakterlich immer tiefer ein und führt bald nur noch ein Leben auf Speed. Seine Auftraggeber lassen ihn fallen. Als eines schlimmen Tages zu allem Übel auch noch sein einziger Freund, der Kaktus Rod, wegen mangelnder Aufmerksamkeit sein Leben aushaucht, will er endgültig alles ändern. Er springt in einen Zug und folgt Jasmin. Ein Happy-End bleibt aus.

Strasser baut die Geschichte von Rod Reptile geschickt und nachvollziehbar auf. Im Dialog mit dem Kaktus bedient der 34-jährige Düsseldorfer Autor sich eines Kunstmittels, das literarische Qualität hat. Er erzählt seine Story in lakonisch-distanziertem Stil und verzichtet auf die klebrige Ausschmückung eines Soft-Pornos. Damit enttäuscht er vermutlich die Hoffnungen der Voyeure, die zu dem Buch greifen, weil sie hinter dem Titel eine saftige Sexstory wittern. »Pornostern« lüftet hingegen einen Zipfel des Vorhangs der Sexindustrie und liest sich als eigenwilliger und durchaus nachvollziehbarer Bericht.


Genre: Romane
Illustrated by Ubooks Diedorf

Sense

Kristof Kryszinksi erwacht nach durchzechter Nacht mit dröhnendem Schädel in seiner Matratzengruft neben einer Leiche. Der Tote ist der Automatenkönig Sascha, den der Privatdetektiv eigentlich gesund und munter ausfindig machen sollte. Die attraktive Gattin des Spielhöllenbetreibers hatte den Schnüffler angeheuert, weil Männe die Einnahmen nicht wie gewohnt brav daheim abgeliefert hatte sondern spurlos verschwand. Nun ist der Mann mausetot und liegt in seinem Blut. Kryzinski hat den lukrativen Auftrag ergo voll vor die Wand gefahren, und seine »Freunde« von der Bulleria halten ihn zu allem Überfluss auch noch für den Mörder.

Vor diesem Hintergrund geht der vollkommen heruntergekommene Detektiv in den düstersten Ecken zwischen Essen, Bochum und Gelsenkirchen auf die Suche nach seinem Alibi und dem Hergang des Geschehens. Kryszinski geht nicht wirklich auf die Suche. Was er unter Suche versteht, ist ein chaotisches Herumstöbern mit dem Ziel, etwas aufzuspüren oder aufzuscheuchen, das ihn seiner Sache näher bringt. Er schwört dabei auf seinen »Instinkt«. Hat er aber erst einmal eine Fährte aufgenommen, dann verstärkt er den Druck durch sofortiges Hinterherhetzen. Bleibt das ohne Erfolg, kehrt er zurück zum Ausgangspunkt und spickt das Terrain mit Lockmitteln, Ködern und Fallen. Seine Technik nennt er »Jagd«.

Das »private eye« bewegt sich bevorzugt im Rotlichtmilieu zwischen seiner Stammkneipe »Endstation«, Abwrackplätzen und Lasterhöhlen. Dabei versucht er, eines der letzten Abenteuer des Alltags zu bestehen und 24 Stunden ohne Alkohol und Koks zu bleiben. Das fällt ihm spürbar schwer, und so sieht er wie etwas aus, das ein Hund im Wald gefunden, runter geschlungen und dann daheim aufs Kanapee gewürgt hat. Bevorzugt schleudert er in betagten japanischen Spritfressern durch die Landschaft und schafft es durch seine Auftritte, eine gehörige Portion Unruhe in die Halbwelt des Pütts zu bringen. Farbenprächtige Schlägereien in Kneipen und Clubs, wilde Verfolgungsjagden über Stock und Stein in gestohlenen Autos sowie wüste Sauf- und Drogenexzesse reihen sich wie Perlen auf eine Schnur und liefern alles, was ein Krimi bieten sollte.

Juretzka serviert eine brillante Kombination von Wortwitz und Sprachgewalt Die furztrockene, mit schwarzem Humor gewürzte Sprache des Kohlenpott-Chandlers macht es zu einem großen Vergnügen, diesen chaotischen Krimi zu lesen. Es handelt sich dabei um den Auftakt einer kantigen Detektiv-Reihe um den Mühlheimer Antihelden Kryszinski, die zwischenzeitlich eine Reihe Preise bunkern konnte und eine wachsende Zahl von Fans findet. Dieser Roman ist großes Kino!

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin